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Sonntags am Schloss

Es ist ein herrlicher Sonntagmorgen. Um 11 Uhr findet ein Blueskonzert am Saarbrücker Schloss statt. Ich habe geplant hinzugehen. Eine beunruhigende kleine Stimme in mir sagt: nein. Keine gute Idee. Der Weg ist steil. Es gibt keine Parkplätze.

Blick auf die Saar vom Schlossgarten

Was ist, wenn die Beine den Dienst versagen? Was ist, wenn die Blase sich meldet? Ich „wüsste“ doch ganz genau, dass ich mich einfach nicht mehr ohne genaue Planung frei in der Welt bewegen kann. Zur Bekräftigung hat der Morgen mit Kopfschmerzen begonnen. Meine linke Hand ist wieder tauber und kraftloser. Der Körper fährt die Erfahrungen der letzten Monate hoch. Aber ich habe keine Lust auf die Opferrolle. Ich konzentriere mich lieber darauf, was ich möchte: die Welt erfahren, Musik hören und Menschen treffen, meinen Körper trainieren und seine Möglichkeiten erweitern.

Suleika Jaouad schreibt in ihrem wunderbaren Buch Zwischen den Welten„Nun habe ich weder das Vorstellungsvermögen, die Kraft oder die Mittel, um eine große Reise zu unternehmen, deshalb beginne ich meine Mission mit mehreren kurzen Ausflügen vorab. … Zu lernen, auf mich allein gesellt zu sein, scheint mir der erste nötige Schritt zu allem zu sein, was da auch kommen mag. Ich muss darauf vertrauen, dass ich unabhängig sein kann. Ich muss meine eigene Pflegekraft werden.  Ich habe lange gebraucht, um zu sagen, dass ich Krebspatientin bin. Dann war ich lange nichts anderes. Es wird Zeit, dass ich herausfinde, wer ich jetzt bin.“

Genau das ist der Punkt. Ich bin auf meiner (Lebens)Reise. Nach Monaten, in denen mich Beschwerden vor sich hergetrieben haben, ist es an der Zeit, die nächsten Ziele wieder ganz bewusst selbst zu setzen, ohne den Körper zu vernachlässigen. Also los! Ich denke an einen Satz von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf: „Das habe ich noch nie getan. Deshalb wird es mir gelingen.“.

Mittlerweile sind es über 30 Grad. Ich finde keinen Parkplatz und nehme das als Chance, ein  längeres Stück zu Fuß zu gehen. Ich parke weit entfernt in einem schattigen Plätzchen, spreche mir gut zu und mache mich auf den Weg zum Schloss. Ich „fühle“, wie der Shunt in meinem Kopf arbeitet. Die unterschiedliche Beschaffenheit der Strecke gibt dem Körper Gelegenheit, Balance und Trittfestigkeit zu üben. Der Shunt unterstützt ihn auf wunderbare Weise. Ich bin erneut fasziniert von dieser medizinischen Erfindung, die mir ein neues Leben ermöglicht. Treppen sind eine Nummer für sich. Sie machen mir Angst. Vor allem beim Runtergehen. Doch das sind nur die Erinnerungen im Kopf an die vielen Stürze der letzten Monate. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Erinnerungen aller Art in unserem Körper gespeichert sind. Ich stelle mir vor, wie ich gesund und voller Vorfreude am Ziel ankomme. Ich bin auf die Minute am Schlossgarten. Die Band beginnt zu spielen.

Die Menschen um mich herum könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch eines verbindet uns. Die Liebe zur Musik und zum Rhythmus. Das Alter spielt dabei keine Rolle. Ich sehe kleine Kinder tanzen und junge Familien, die entspannt unter den Bäumen im Schatten liegen, und deren Füße im Takt mitwippen. Ältere Menschen mit und ohne Stöcke tanzen auf engem Raum. Der Leadsänger teilt uns in gebrochenem Deutsch mit, dass er kein Deutsch spricht. Doch das ist ohne Bedeutung. Wir alle sprechen Musik.

Ich setze mich auf eine der Bänke. Es ist so heiß, dass ich nach einer guten halben Stunde aufstehe und mich um die Ecke vor ein Café setze. Die Musik ist immer noch sehr gut zu hören. Aber hier spenden große Bäume Schatten. Der einzig freie Tisch ist reserviert, bietet mir aber noch fast eine Stunde Zeit. Ich bestelle ein Getränk. Ein freundlicher Mann fragt mich, ob er sich mit seiner Begleiterin dazusetzen kann. Natürlich. Ich schlage ein Buch zum Lesen auf, genieße das Treiben um mich herum und entnehme den Wortfetzen des Gesprächs am Tisch, dass die Begleiterin aus meiner alten Heimat in der Nähe von Nalbach stammt. Ich erkenne den leichten Dialekt. Der Mann kommt eindeutig aus Saarbrücken. Sie sind kein Paar, genießen aber den schönen Platz und ihre Gesellschaft. Ich lächele und denke mir, dass wir alle auf die unterschiedlichste Art auf dieser Welt miteinander verbunden sind. Ob das Menschen aus meiner alten und neuen Heimat sind, die Akteurin meines Buches, Suleika Jaouad, ebenso wie die Natur um mich herum und die Bäume über mir. Wir sind und waren niemals allein. Aber vielleicht ist die Fähigkeit, mit sich selbst allein zu sein, die Voraussetzung, um das zu erkennen.